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Weibliche Stimmen in der chinesischen Literatur

Weibliche Autorinnen mussten in allen Epochen Wege finden, ihre Stimme hörbar zu machen – ob im Leipzig des 18. Jahrhunderts oder im China der Song-Dynastie. Christiana Mariana von Ziegler behauptete sich in einer männlich geprägten Öffentlichkeit. Ähnliche Herausforderungen kannten auch Schriftstellerinnen in anderen Kulturen. Drei von ihnen – Li Qingzhao, Zhang Ailing und Sanmao – stellt Feng Yingyi in diesem Gastbeitrag vor.


Li Qingzhao, Zhang Ailing und Sanmao vor einem grünen Hintergrund


In der langen Geschichte der chinesischen Literatur waren Frauen niemals stumm. Sie fanden immer wieder Wege, ihre Gedanken, Gefühle und Weltansichten in Worte zu fassen. Drei besonders eindrucksvolle Beispiele sind Li Qingzhao, Zhang Ailing und Sanmao (Pseudonym). Sie lebten zu ganz unterschiedlichen Zeiten, doch hat man beim Lesen bisweilen den Eindruck, dass sich ihre Stimmen über die Jahrhunderte hinweg begegnen.


LI Qingzhao: Stärke in unruhigen Zeiten


Zwei Zeichnungen von Li Qingzhao

Li Qingzhao (1084–ca. 1155), geboren in eine gelehrte Familie zur Zeit der Song-Dynastie, gilt heute vielen in China als die „größte Dichterin aller Zeiten“. Schon als Kind liebte sie Bücher und Gedichte. In ihrer Jugend schrieb sie zarte, klare Gedichte:


Ich erinnere mich oft an den Abend am Pavillon, am Bach,

betrunken wusste ich nicht, wie ich nach Hause kam.

Als die Freude nachließ und ich spät mit dem Boot zurückfuhr,

verirrte ich mich tief in die Lotusblumen.

Ich ruderte, ruderte,

scheuchte eine ganze Gruppe von Möwen und Reihern auf.


Übersetzung: Feng Yingyi, vgl. auch Li Qingzhao: Gedichte von Li Qingzhao, übersetzt von Penelope Monroe, Daybreak Studios 2024.

Nach ihrer Heirat mit Zhao Mingcheng, einem Gelehrten und Kunstsammler, führte sie ein kultiviertes Leben; es war eine Ehe auf Augenhöhe. Doch die Zerstörung der Song-Dynastie, der frühe Tod ihres Mannes und die Vertreibung ins Exil veränderten ihren Ton: In ihren späten Werken klingen tiefe Trauer, Verlust und Lebensschmerz an.


Li Qingzhao gilt als herausragende Vertreterin der sogenannten Wanyue-Schule (婉约派) – des ‚zarten Stils‘ der klassischen Ci-Lyrik. Diese Stilrichtung verbindet feine Emotionen mit eleganter Sprache und subtilen Naturbildern, die innere Stimmungen spiegeln. Lis Verse sind bis heute ein fester Bestandteil des chinesischen Literaturkanons – und für viele Leserinnen und Leser ein Inbegriff weiblicher Stärke inmitten von Umbrüchen.


ZHANG Ailing: Von klassischer Lyrik zur modernen Großstadt


Zwei Bilder von Zhang in schwarzweiß

Fast tausend Jahre später betrat Zhang Ailing (1920–1995) die literarische Bühne. Sie wurde in Shanghai in eine angesehene, aber konfliktbelastete Familie geboren. Sie war außerdem die Enkelin von Li Hongzhang (1823–1901), einem bedeutenden Politiker und Diplomaten der späten Qing-Zeit. Zhang Ailings Mutter war weltoffen und hatte in Europa studiert, doch die Ehe der Eltern scheiterte. In dieser zerrissenen familiären Atmosphäre entwickelte Zhang Ailing ihren desillusionierten, kühlen Blick auf die Gesellschaft ihrer Zeit.


In den 1940er Jahren erlangte sie zunächst in Shanghai Berühmtheit mit Werken wie Liebe in einer untergegangenen Stadt, Das goldene Schloss und Rote Rose und weiße Rose. Ihre Figuren sind intelligent, verletzlich und auf der Suche nach Liebe in einer Welt voller Gegensätze. Später zog Zhang Ailing nach Hongkong und in die USA, hatte hier auch internationalen Erfolg; sie starb zurückgezogen in Los Angeles.


Ihre Erzähltexte gehören zur Strömung des psychologischen Realismus: mit scharfem Blick und subtiler Ironie enthüllt sie menschliche Schwächen, weibliche Sehnsucht und Einsamkeit in der modernen Stadt. Als ‚Klassikerin‘ der chinesischen Moderne wird sie auch heute noch in China rezipiert. Ihre Geschichten erinnern in Ton und Thematik an deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts, etwa Irmgard Keun oder Ingeborg Bachmann – beide ebenfalls Chronistinnen einer weiblichen Moderne zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Und viele ihrer Werke wurden verfilmt – zum Beispiel Gefahr und Begierde (色戒), inszeniert vom berühmten Regisseur Ang Lee.


Einige ihrer Werke wurden ins Englische übersetzt: Chang Eileen: Love in a Fallen City. New York: Penguin, 2007. Chang Eileen: The Rice-sprout Song. California: University California Press, 1998.

Sanmao: Freiheit schreiben


Zwei Porträtbilder von Sanmao

Wenn Li Qingzhao die lyrische Tradition verkörpert und Zhang Ailing den modernen Realismus, so steht Sanmao (1943–1991) für eine ganz andere literarische Richtung – eine autobiografisch geprägte, freiheitliche Prosa. Sanmao (1943–1991), geboren als Chen Ping in Chongqing und aufgewachsen in Taipeh, liebte schon als Kind Bücher und war sehr neugierig auf die Welt. Nach ihrem Studium reiste sie nach Spanien, wo ihr Leben eine abenteuerliche Wendung nahm.


In den 1970er Jahren ging sie in die Sahara, heiratete den spanischen Taucher José Maria Quero y Ruiz und fand dort ihre Heimat. Ihr Leben in der Wüste beschreibt sie in der Erzählung Geschichten aus der Sahara mit ehrlichen und humorvollen Worten über Liebe und Alltag. Doch das Leben war nicht nur poetisch: 1981 starb José bei einem Unfall, Sanmao war untröstlich. Sie schrieb dennoch weiter, reiste viel und veröffentlichte neue Texte. 1991 starb sie in Taipeh.


Sanmaos Werke sprechen von Freiheit und Weltoffenheit und zeigen den Mut von Frauen, ihren eigenen Weg zu gehen. Für meine Generation hat diese Autorin eine große Bedeutung – das liegt nicht zuletzt an ihren Themen: Die Verbindung von Tradition und Aufbruch, die Ideen von Freiheit und weiblicher Selbstbestimmung, die interkulturelle Begegnung und intellektuelle Stärke ihrer Protagonistinnen berühren auch heute noch ihre Leserinnen und Leser.


Einige ihrer Werke in Übersetzung: Sanmao: Stories of the Sahara. London: Bloomsbury Publishing 2019. Sanmao: Gone with the Rainy Season. New York: Crown Publishing, 1976.

Weibliche Stimmen über Zeit und Raum hinweg


Li Qingzhao schrieb vor über tausend Jahren Gedichte voller Gefühl und Stärke, Zhang Ailing enthüllte in Romanen die Komplexität der modernen Gesellschaft und der Großstadt und Sanmao suchte in der Prosa nach Freiheit und Sinn. Ihre literarischen Formen – Ci-Lyrik, psychologischer Realismus und autobiografische Reiseliteratur – mögen verschieden sein, doch sie alle sprechen mit einer Stimme, die zugleich sanft, aber kraftvoll ist. Ob zart oder nüchtern, ungebunden oder reflektiert – Autorinnen prägen die Literatur mit eigenem Geist und scharfem Denken. Ihre Worte sind – wie man auf Chinesisch sagen würde – sanft wie Wasser und stark wie Licht zugleich.


Es wäre eine spannende Aufgabe, diese und andere Autorinnen der chinesischen Literatur mit ihren deutschen Zeitgenossinnen und Nachfolgerinnen zu vergleichen. Direkte Bezüge werden sich selten finden lassen, obwohl die Autorinnen der chinesischen Moderne bald auch in der westlichen Welt rezipiert wurden oder deutsche Autorinnen wie Vicki Baum in China lebten. Doch gerade mit Blick auf Fragen weiblicher Autorschaft und Emanzipation könnten solche komparatistischen Studien aufschlussreich sein. Vielleicht gibt es ja eine chinesische Christiana Mariana von Ziegler, die es noch zu entdecken gilt!



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Text von

Dr. Feng Yingyi

Dozentin am Zentrum für Deutschland-Studien der

Sichuan International Studies University in China


 
 
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